Politik braucht Wissenschaft

Die Wissenschaft darf die Politiker nicht alleine lassen.

Pandemiemanagement ist mit seiner Komplexität einfach zu schwierig. Krisenmanagement in einer Pandemie solchen Ausmaßes erfordert zielgenaue Maßnahmen auf zuverlässiger Fakten- und Methodenbasis. Die Maßnahmen müssten rasch und konsequent umgesetzt und den Bürgern verständlich erläutert werden. Das Gegenteil erleben die Bürger jeden Tag. Politiker bemühen sich mit viel Energie um einen Ausgleich der Interessen. Das ist höchst anerkennenswert. Angesichts der Ergebnisse fragt man sich aber, warum das nicht besser gelingt. Natürlich sehen die Bürger, dass die Zahl von gemeldeten Neuinfektionen kleiner wurde, auch die Zahl der Menschen auf Intensivstationen nimmt ab und es sterben weniger Menschen an und/oder mit Corona.

Allerdings sieht man auch, dass der Inzidenz-Wert seit einiger Zeit knapp unter 60 stagniert. Damit reduziert sich die Hoffnung, dass die Zahl von 35 Personen, bei denen eine Infektion neu gemeldet wurde (in den letzten 7 Tagen, pro 100.000 Einwohner). Die Belastungen für Bürger und für viele Bereiche der Wirtschaft steigen und damit wächst der Unmut über fehlende Perspektiven. Für den 19.02. hatte die Runde aus Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten einen Stufenplan für das weitere Vorgehen verbindlich angekündigt. Obwohl es mehrere Vorschläge gab, wurde keine verbindliche Version vorgelegt. Außer mageren Hinweisen auf Mutanten wurde keine stichhaltige Begründung gegeben. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Die beteiligten Politiker hatten keine Begründung  oder sie wollten nicht mitteilen.

Dabei gibt es große Unterschiede in den Bundesländern und Landkreisen. In den Bundesländern liegen die Werte am 20.2.21 zwischen 43 (BW) und 122 (Thüringen), in den Landkreisen zwischen  Null (Stadt Kempten) und 337 (Lkr. Tirschenreuth). Eigentlich müsste man inzwischen viel besser verstehen, woher die Unterschiede kommen und was man dagegen tun kann. Hier sind die Wissenschaftler aus Infektiologie und Epidemiologie gefragt. Aber sie haben zu wenig Daten.

Klar ist aber: Vor der Einführung beschränkender Maßnahmen entscheiden Parlamente und gewählte Politiker. Diese Rechte, Pflichten und die damit verbundene Verantwortung sind ihnen in unserer Demokratie zugewiesen. Wegen der Tragweite der Entscheidungen und der Komplexität des zu beurteilenden Sachverhaltes sollten sie zur Vorbereitung ihrer Entscheidungen breite Unterstützung aus Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft einholen. Dafür gibt es bisher kein natürliches Gremium und keine Vorgaben. Bund und Bundesländer suchen sich vielmehr ihre “eigenen” Fachleute. Das reicht aber nicht aus.

Zudem werden deren Vorschläge nicht kommuniziert. Als logische Folge werden zahlreiche Verlautbarungen, Positionspapiere und Stellungnahmen publiziert. Das ist einer einerseits wegen der Meinungsvielfalt gut so, fördert aber andererseits die Verwirrung in Politik und Öffentlichkeit. So sucht sich schließlich jeder die Argumente heraus, die seinen Ansichten am nächsten kommen. Ein gefundenes Fressen für Talkshows, Mythenbildner und Verschwörungstheoretiker. Das hilft nicht weiter.

Um dies zu vermeiden, wurde im Buch “Strategiewechsel jetzt!” die Einrichtung einer

Nationalen Pandemie-Taskforce

vorgeschlagen (Kapitel 7.4 “Pandemien: Testfall für salu.TOP”). Ihr Aufgabengebiet beginnt beim Gesundheits­system und bezieht in der Folge weitere Einflussbereiche mit ein. Die Taskforce der Bundesärztekammer kann ein Beispiel sein. Sie reicht aber nicht weit genug in die Gesellschaft hinein. Sie führt verfügbare Fakten und Evidenzen sowie erprobte Methoden zusammen und verdichtet sie zu einer Entscheidungsgrundlage für die politische Ebene. Dieser Vorschlag ist aktueller denn je.

Wissenschaftliche Politikberatung hat in Deutschland noch nicht den Stellenwert, den sie verdient. Andererseits muss man zugeben, dass auch “die Wissenschaft” nicht gut auf eine solche Aufgabe vorbereitet ist.

Deshalb sollte das Parlament und die verantwortlichen Politiker dringend und ernsthaft erwägen, die gesetzlichen Grund­lagen für eine Nationale Pandemie-Taskforce zu schaffen. Zwar gibt es Lösungsansätze im Bund und in den Ländern für die Bewältigung solcher Aufgaben. Sie haben aber weder die Autorität und Eigenständigkeit, noch den organisatorischen Rahmen oder die operative Schlagkraft, die für eine solche Krise erforderlich wären.

Noch ein Wort zu der oft angeführten Begründung für suboptimal Entwicklungen: Das ist alles neu!  und  Wir müssen alle lernen.

Das ist nicht richtig. Nicht alles ist neu!

  • Neu sind das Virus und seine Eigenschaften.
  • Bekannt sind die Methoden, wie man mit solchen Situationen umgeht.

Seit fast 20 Jahren finden einschlägige Übungen zur Bewältigung unterschiedlicher Pandemien statt. Es gibt mehrere inhaltsreiche Berichte an den Bundestag und – last but not least – einen Nationalen Pandemieplan zusammen mit Erläuterungen und wissenschaftlichen Begründungen. Eine wahre Fundgrube. Man müsste die Vorschläge nur konsequent anwenden.

Das Robert-Koch-Institut hat den Nationalen Pandemieplan sogar im März 2020 überarbeitet. Wichtige Hinweise wurden allerdings immer noch nicht umgesetzt. Klare Verantwortlichkeiten beschreibt eigentlich die Allgemeine Verwaltungsvorschrift über die Koordinierung des Infektionsschutzes in epidemisch bedeutsamen Fällen (Verwaltungsvorschrift-IfSG-Koordinierung – IfSGKoordinierungs-VwV). Sie wurde bereits am 12. Dezember 2013 von Minister Bahr und Bundeskanzlerin Merkel unterschrieben.

Zusammenfassend:

Die Corona-Pandemie beeinflusst nahezu alle Bereiche unseres Zusammenlebens. Genauso greifen politisch veranlasste Interventionen tief in alle gesellschaftlichen Abläufe ein. Zu allem Übermaß beeinflussen sich die Interventionen auch noch gegenseitig. Dies macht es Politikern insgesamt unmöglich, alle Wirkungen und Nebenwirkungen ihrer Maßnahmen vorherzusehen.

Dies ist kein Politikversagen,
sondern eine unveränderbare Eigenschaft komplexer Systeme!

Für eine tiefgreifende Analyse fehlen Politikern in der Regel nicht nur Kompetenz und Zeit, eine solche Analyse ist auch gar nicht ihre Aufgabe. Dies kann nur eine multiprofessionelle Gruppe erfahrener Fachleute leisten.

“Die Politik” sollte für ihre weitreichenden Entscheidungen eine umfassende und wissenschaftlich fundierte Vorbereitung durch eine fest etablierte

Nationale Pandemie-Taskforce

einrichten. Die gesetzliche Grundlage dafür böte §16 die IfSGKoordinierungs-VwV.